Landsberg
im 20. Jahrhundert
Bürgervereinigung zur Erforschung der Landsberger Zeitgeschichte

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Tarnname "Wolke A1"
Wie der Plan, noch Tausende von jüdischen KZ-Häftlinge zu vernichten, vereitelt wurde

von Manfred Deiler

Kurz vor Ende des Krieges. Die Konzentrationslager von Dachau, Mühldorf, Landsberg und Kaufering sollen von der deutschen Luftwaffe bombardiert und liquidiert werden. Doch Gaustabsamtsleiter Bertus Gerdes kann Kaltenbrunners tödlichen Plan „Wolke A1“ mit der Begründung von Treibstoff- und Bombenmangel hinauszögern. Schließlich sollen alle jüdischen KZ-Häftlinge vergiftet werden. Gerdes gelingt durch Hinhalte- und Verzögerungstaktik, daß diese „Aktion Wolkenbrand“ nicht mehr durchgeführt werden kann und rettet so Tausenden von jüdischen KZ-Häftlingen das Leben.

 Dienstag, 17. April 1945. Wie überall in Deutschland sind auch in Landsberg Durchhalteparolen zu hören. Es herrscht Endzeitstimmung. Alle wissen inzwischen, daß der Krieg verloren ist, niemand weiß was werden soll. Ortsgruppenleiter Wilhelm Nieberle führt immer noch große Reden und bereitet die Bevölkerung auf „die Stunde der Bewährung" vor. Angst macht sich breit. Angst vor der Zukunft und Angst vor Konsequenzen: alle haben sie gesehen, die zerlumpten, und ausgehungerten Gestalten.

Die „Landsberger Zeitung" gibt den Tagesbefehl des „Führers" bekannt: „Zum letzten mal ist der jüdisch-bolschewistische Todfeind mit seinen Massen angetreten. Er versucht Deutschland zu zertrümmern und unser Volk auszurotten. (...) Wer in diesem Augenblick seine Pflicht nicht erfüllt, handelt als Verräter an unserem Volk. (...) Achtet vor allem auf die verräterischen wenigen Offiziere und Soldaten, die um ihr erbärmliches Leben zu sichern im russischen Solde, vielleicht sogar in deutscher Uniform gegen uns kämpfen werden. Wer auch Befehl zum Rückzug gibt, ohne daß ihr ihn genau kennt, ist sofort festzunehmen und nötigenfalls augenblicklich umzulegen, ganz gleich welchen Rang er besitzt. (...) Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch und Europa wird niemals russisch!"

Zu dieser Zeit erhält der Gaustabsamtsleiter von Oberbayern, Bertus Gerdes, den Befehl, sich für eine wichtige Nachrichtenbesprechung in München freizuhalten. Noch am gleichen Abend eröffnet ihm sein Vorgesetzter, Gauleiter Paul Giesler, daß er von SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner die Weisung erhalten habe, „im Auftrage des Führers unverzüglich einen Plan über die Liquidierung der Konzentrationslager von Dachau, Landsberg und Mühldorf auszuarbeiten". Kaltenbrunner hatte Befehl erteilt, die jüdischen KZ-Kommandos von Landsberg und Mühldorf durch die deutsche Luftwaffe vernichten zu lassen. Dieser Plan erhielt den Tarnnamen „Wolke A1".

Gerdes wird von seinem Vorgesetzten mit der Vorbereitung und Durchführung dieses Planes betraut. Schon am nächsten Tag trifft er sich mit dem Lufwaffengeneral Galland zu „einem Mittagessen im kleinsten Kreis" im Seehaus am Kleinhesseloher See im Englischen Garten in München. Dort werden jedoch, so Gerdes, nur „allgemeine Fragen erörtert". Ein geplantes zweites Gespräch über die Durchführung von „Wolke A1" kommt nicht mehr zustande.

Gerdes versucht mit dem Führerhauptquartier in Berlin Kontakt aufzunehmen. Reichsleiter Martin Bormann ist telefonisch nicht zu erreichen, es kommt kein Anschluß zustande. Endlich erhält er eine Verbindung mit Walkenhorst, dem Personalchef von Bormann. Walkenhorst teilt Gerdes knapp mit, „daß ihm von einem Führerauftrag "Wolke A1" nichts bekannt sei". Er wolle sich jedoch um eine Klärung bemühen „und wieder anrufen". Da dieser Anruf ausbleibt bemüht sich Gerdes weiter und erhält endlich eine Telefonverbindung zu Treitsch, dem Verbindungsmann zwischen Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, und Bormann. Dieser erteilt ihm unter dem Hinweis, daß Kaltenbrunner schließlich der Vertreter Himmlers sei, den Befehl, daß „den Anordnungen Kaltenbrunners unbedingt Folge zu leisten wäre."

Bertus Gerdes will und kann die Verantwortung für die Durchführung eines Befehls von solch ungeheurer Tragweite nicht alleine tragen. Er begibt sich in die Ludwigstraße 28 in München und sucht seinen Vorgesetzten auf. Gauleiter Giesler läßt ihn schließlich wissen, daß er die Durchführung des Planes „Wolke A1“ „alleine mit seinem eigenen Gewissen zu vereinbaren habe".

Ich war mir darüber im klaren, diesen Auftrag niemals zur Durchführung zu bringen. Da die Aktion "Wolke A 1" schon längst zur Auslösung gekommen sein sollte, wurde ich förmlich überlaufen von den Kurieren Kaltenbrunners und ich sollte auch die Einzelheiten der Mühldorfer und Landsberger Aktionen mit den beiden Kreisleitern besprochen haben. Die Kuriere, in den meisten Fällen SS-Offiziere, gewöhnlich SS-Untersturmführer, gaben mir kurze und harte Befehle zum Lesen und Abzeichnen. Die Befehle drohten mir bei Nichtbefolgung die fürchterlichsten Strafen an, einschließlich der Hinrichtung im Falle der Nichtbefolgung. Ich konnte die Nichtausführung jedoch immer mit schlechtem Flugwetter, Benzin- und Bombenmangel begründen. Kaltenbrunner befahl daher die Landsberg-Juden im Fußmarsch nach Dachau zu führen."

Kaltenbrunner erteilt den Befehl, die jüdischen KZ-Häftlinge von Landsberg nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager Dachau zu vergiften. Es ist weiter geplant, alle Dachauer Häftlinge mit „Ausnahme der arischen Häftlinge der Westmächte mit Gift zu liquidieren". Dieser neue Plan Kaltenbrunners erhält den Decknamen „Aktion Wolkenbrand".

Gauleiter Giesler trifft sich inzwischen mit dem Gaugesundheitsführer Dr. Harrfeld zu einem vertraulichen Gespräch. Im Beisein von Bertus Gerdes verspricht Dr. Harrfelddie erforderliche Menge von Giftstoffen zu beschaffen", um den Befehl Kaltenbrunners ausführen zu können.

Kaum haben die ersten jüdischen KZ-Häftlinge der KZ-Kommandos von Landsberg und Kaufering Dachau erreicht, wird durch einen „Kurier von Kaltenbrunner die Auslösung des Kennworts Wolkenbrand gegeben". Das Schicksal der Häftlinge scheint besiegelt. Doch Gerdes geht zu seinem Vorgesetzten Giesler und erklärt ihm, daß „die Front schon zu nahe sei," um die Vergiftungsaktion noch durchführen zu können und bittet ihn um eine Mitteilung an Kaltenbrunner. Die „Aktion Wolkenbrand" wird nicht ausgeführt, das Leben von tausenden jüdischen KZ-Häftlingen ist gerettet.

Gauleiter Giesler teilte mir vertraulich mit, daß die Dienststelle Kaltenbrunners förmlich tobte, als ich bei der Auslösung des Kennworts Wolkenbrand nicht funktionierte und daß ich mich schwer in Acht nehmen müsse, da die Gestapo hinter mir her wäre". Gerdes fürchtet um sein Leben und bangt um seine Familie. Giesler gibt ihm unter einem dienstlichen Vorwand die Möglichkeit, München zu verlassen. Die Flucht gelingt, Gerdes kehrt nicht nach München zurück.

Kaltenbrunner gibt neue Anweisungen. Der Kommandant des Konzentrationslagers Dachau erhält den Befehl „alle Häftlinge der westlichen europäischen Nationen per Lastwagen in die Schweiz zu transportieren". Die übrigen KZ-Häftlinge sollen zu Fuß ins Oeztalgebiet verschleppt werden, „wo die endgültige Liquidierung so oder so stattfinden sollte". Der Leidensweg der Landsberger und Kauferinger KZ-Häftlinge ist immer noch nicht zu Ende. Gnadenlos werden sie von ihren Bewachern nach Süden weitergetrieben. Wer zu schwach und zu krank ist und nicht weitergehen kann, wird erschossen oder zu Tode geprügelt und am Straßenrand liegengelassen. Lange Elendszüge von zerlumpten und ausgemergelten Menschen ziehen in den letzten Kriegstagen durch oberbayerische Städte und Dörfer. Das Morden nimmt kein Ende. Die amerikanischen Truppen ahnen, was den Häftlingen bevorsteht und beeilen sich schneller vorzudringen, um die schier endlos dahinziehenden Marschkolonnen der KZ-Häftlinge einzuholen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Am 2. Mai 1945 werden die letzten Häftlinge am Tegernsee von US-Streitkräften befreit.

Bertus Gerdes überlebte. Er war den Nachstellungen der Gestapo und der SS entkommen. Am 20. November 1945 wurde er vom C.I.C. in Nürnberg vernommen. Durch seine Aussagen belastete er Kaltenbrunner schwer. Ernst Kaltenbrunner, der seit 1943 Chef der Sicherheitspolizei, des SD sowie des Reichssicherheitshauptamtes war, wurde 1946 vom internationalen Militärgericht in Nürnberg zum Tode verurteilt.

Erst Jahre später, im März des Jahres 1989, erfuhren Überlebende des KZ-Kommandos Kaufering/Landsberg, was sich damals tatsächlich ereignete. Im Dokument PS-3462 der Nürnberger Prozeßakten entdeckten sie den Namen des Mannes, „dem sie ihr Leben zu verdanken hatten". Sie suchten nach ihm, um ihm zu danken und ihn für seine selbstlose Tat zu ehren. Durch das Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in Israel wurden sie auf den Historiker Anton Posset aus Landsberg aufmerksam gemacht und setzten sich mit ihm in Verbindung. Gemeinsam versuchte man, nach über 44 Jahren, Bertus Gerdes zu finden. Doch vergeblich.

Alle Bemühungen ihn aufzuspüren, blieben bis heute erfolglos. Niemand wußte etwas über den Verbleib des Mannes der Tausenden KZ-Häftlingen das Leben gerettet hat.

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