Landsberg
im 20. Jahrhundert
Bürgervereinigung zur Erforschung der Landsberger Zeitgeschichte

Gedenkstätte | Historische Tatsachen | Umgang mit der Geschichte | Bürgervereinigung | Publikationen | Aktuelles | Kontakt/Impressum | Links


Der letzte Weg der KZ-Häftlinge
Das Ende der Konzentrationslager um Landsberg/Kaufering

Artikel aus dem Themenheft 2 von Manfred Deiler mit Bildern aus den Artikeln von Anton Posset

Die letzten Tage im April 1945. Alliierte Truppen rücken immer näher an den Landkreis Landsberg heran. In den Konzentrationslagern von Kaufering und Landsberg bereitet die SS die „Evakuierung“ der KZ-Häftlinge vor. Sie werden auf ihren letzten Leidensweg geschickt. Zunächst in Richtung Dachau, dann weiter in Richtung Alpen. Kein Häftling sollte den Amerikanern lebend in die Hände fallen. Dieser „Evakuierungsmarsch“ , der in diesen KZ-Kommandos begann, ging als „Dachauer Todesmarsch“ in die Geschichte ein. Die jüdischen KZ-Häftlinge, die bei der Räumung der KZ-Lager totgeprügelt, erschossen wurden, an Hunger und Erschöpfung starben, sind bis heute in keiner amtlichen Aufstellung enthalten.

Die Stimmung unter den Bewachern in den Konzentrationslagern um Landsberg ist angespannt und gereizt. Immer wieder werden neue Befehle ausgegeben. Sie rufen Unsicherheit und Verwirrung unter den Wachmannschaften hervor. Manch einer würde sich gerne "absetzen" und nach Hause durchschlagen. Doch die SS ist überall. Mit Fahnenflüchtigen wird kurzer Prozeß gemacht, überall hinterlassen die Standgerichte ihre blutige Spur. Es ist Ende April 1945, die Fliegeralarme erfolgen „seit einigen Tagen fast alle zwei bis drei Stunden".

Die Häftlinge lauschen immer wieder gespannt auf das dumpfe Brummen der Flugzeugmotoren der alliierten Bomberverbände, die in riesigen Formationen nach München fliegen und „hören die Detonationen der Bomben" die über der Landeshauptstadt abgeladen werden. München brennt, der blutrot erleuchtete Himmel ist bis nach Landsberg zu sehen. Die Essensrationen in den Konzentrationslagern um Landsberg waren in den letzten Wochen „kleiner und kleiner geworden" und die bereits bis auf die Knochen abgemagerten Menschen hungern schrecklich. Flecktyphus rafft die geschwächten KZ-Häftlinge zu Hunderten dahin. Manche Wachmänner sind freundlicher geworden, ihr Umgangston hat sich geändert. Sie sind nachdenklich geworden. Unter den Häftlingen sind Gerüchte und „neueste Meldungen" in Umlauf. Immer wieder wird gemunkelt, daß die Befreier nahe sind. Hoffnung und Niedergeschlagenheit tauchen die KZ-Häftlinge in ein Wechselbad von Gefühlen. Wird man noch einige Tage dem Hungertod widerstehen können? Gibt es eine Chance zum Überleben oder werden sie uns alle töten? Viele können und wollen an ein Leben in Freiheit nicht mehr glauben. Zuviel hatten sie in den letzten Jahren durchmachen müssen, zuviel hatten sie erlebt.

In diesen Tagen erhielt der Sturmbannführer Otto Förschner den Befehl, die Häftlinge der KZ-Kommandos von Kaufering und Landsberg zu „evakuieren". Die „Landsberg-Juden sollten im Fußmarsch nach Dachau geführt werden". Es sollte, so der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, „kein Häftling lebend in die Hände der alliierten Truppen gelangen". Sturmbannführer Otto Förschner war zu dieser Zeit der Lagerkommandant über alle KZ-Kommandos von Kaufering und Landsberg und für die Durchführung der „Evakuierung" verantwortlich. Seine Kommandantur befand sich im Lager 1, im Westen von Landsberg, nahe der Iglinger Straße. Von diesem Lager und von der Kommandantur ist heute nichts mehr zu sehen. Die Überreste sind spurlos verschwunden, sie wurden planiert und zubetoniert. Auf dem ehemaligen Lagergelände ist ein modernes Industriegebiet entstanden.

Die Lager wurden", so Förschner, „laut Befehl zwischen dem 24. und dem 27. April 1945 evakuiert". Die noch gehfähigen jüdischen KZ-Häftlinge mußten antreten und wurden unter strengster Bewachung aus den Lagern getrieben. Endlos lange Marschkolonnen schleppten sich durch die Altstadt von Landsberg. Die zerlumpten KZ-Häftlinge boten einen fürchterlichen Anblick, „sie waren nur noch Haut und Knochen".

Es ist noch sehr kalt in den letzten Apriltagen und sie frieren erbärmlich. Die Häftlingskleidung ist dünn und viele müssen barfuß in primitiven Holzschuhen marschieren. Ihre Füße sind geschwollen und wundgescheuert. Durch die Kälte platzt die Haut auf. Bald bilden sich große Wunden, die sehr schnell vereitern. Doch die Wachmannschaften kennen keine Gnade und treiben die Häftlinge erbarmungslos vorwärts.
Tausende um Tausende sind es, die in gestreiften KZ-Kleidern über die Neue Bergstraße hinaufziehen".
Die Bürger von Landsberg wandten sich mit Entsetzen ab, als sie diese Marschkolonnen sahen. Die meisten unter ihnen aber waren jedoch an den Anblick schon gewöhnt; in den vergangenen Monaten konnten sie fast täglich „Juden in grau-blau gestreiften Anzügen" durch die Stadt ziehen und arbeiten sehen. Sie konnten beobachten, wie sich „Juden vor Hunger auf Mülltonnen stürzten, Gemüseabfälle gierig in den Mund stopften" und sich vor Hunger erniedrigten. Kahlgeschorene Jüdinnen putzten den Bahnhof, während andere in renomierten Gaststätten Kartoffeln schälten. Ein großes Arbeitskommando mit jüdischen KZ-Häftlingen erneuerte in der Stadt das Kopfsteinpflaster, während die Wachmannschaften die Umgebung abriegelte. Jene, die in dieser Zeit billige Arbeitskräfte brauchten und sich nicht scheuten, konnten Häftlinge aus den KZ-Kommandos anfordern. Gegen geringes Entgelt stellte die SS die gewünschte Anzahl KZ-Häftlinge und Wachmänner zur Verfügung. Einzige Bedingung : „Die dürfen nichts bekommen, nichts zu essen und nichts zu trinken und gar nichts". Die ausgezehrten, von Läusen malträtierten, „verwahrlosten" und der Menschenwürde beraubten jüdischen KZ-Häftlinge, die über Monate hinweg auf den Landsberger Straßen zu sehen waren, entsprachen für viele „Bürger" genau dem Bild, das die nationalsozialistische Propaganda über Jahre hinweg von den „Judenschweinen" gezeichnet hatte. „Die sind ja nicht einmal Tiere! Die sollen doch verrecken!" Solche und ähnliche Worte hörte der damals 14jährige Max Rieder, als Juden durch die Landsberger Altstadt getrieben wurden.

Und so ist es auch in den letzten Apriltagen des Jahres 1945. Nicht alle haben Mitleid mit den geschundenen Menschen, die durch die Stadt getrieben werden. Aber man hat Angst, große Angst vor den anrückenden alliierten Streitkräften und deren Reaktionen auf die vielen Konzentrationslager in der Umgebung.

Als die Häftlinge ihr Lager verließen, „erhielt jeder ein halbes Kilo Brot und eine Dose Büchsenfleisch" als Marschverpflegung, schrieb der Überlebende Levi Shalit in seinem Buch „Beyond Dachau". Diese Verpflegung „mußte für die ganze Drei-Tages-Reise reichen". Zweitausend Häftlinge traten auf dem Appellplatz an:

Vorwärts Marsch! Die Tore standen offen und die Kranken spähten aus ihren Baracken. Was wird auf sie zukommen? Niemand konnte das sagen. Die Wachen verließen ihre Wachtürme. Alles war gepackt, alles war in Bewegung. Ein letzter Blick auf das Lager. War das Wirklichkeit oder ein Traum? Die Tore blieben offen -- das Lager geöffnet! Hinter uns hörten wir Dynamitexplosionen. Bald holten uns ein paar Wachen ein..... Also wurden die Kranken bereits erledigt. Wir marschierten durch die Stadt Landsberg am Lech. Es war fast ein Jahr her, daß wir eine Stadt und freie Menschen gesehen hatten. Obgleich sie Deutsche waren, wollten wir, ähnlich den Patienten, die ein Krankenhaus verlassen, die Vorübergehenden anlächeln. Unsere Füße berührten die Straße, die von Menschen gemacht war und das Gefühl auf Kopfsteinpflaster zu laufen, stärkte unsere schwachen Knie. Aber die Gesichter der Vorübergehenden waren starr. Deren Augen blickten durch uns hindurch".

Der Marsch der Landsberger KZ-Häftlinge dauerte noch lange. Die Strapazen, die diese Menschen in den letzten Apriltagen durchlitten, waren schier unerträglich. Was in diesen Tagen in und um Landsberg herum geschah, war der Beginn dessen, was später als der „Dachauer Todesmarsch" in die Geschichtsbücher einging.

Inzwischen beginnt die SS die Landsberger und Kauferinger Konzentrationslager endgültig zu räumen und die zurückgebliebenen, nicht mehr gehfähigen und kranken KZ-Häftlinge in Eisenbahnzüge und Kraftwagen zu verladen. Die Wachen brüllen und treiben die Häftlinge an: „Alles was gehen kann antreten! Antreten!" Die Zeit drängt, denn die Alliierten sind nicht mehr weit. Ein Menschenleben ist nicht mehr viel Wert in diesen Tagen, insbesondere wenn es sich um einen Juden handelt. Es wird geprügelt, geschlagen und gemordet.

Das Lager 1 wurde in drei Transporten, am 24.4.1945, am 25.4.1945 und am 26.4.1945 geräumt. Manche KZ-Häftlinge wurden aus den umliegenden Konzentrationslagern in dieses Hauptlager verlegt, um hier zu Transporten zusammengestellt zu werden. Rapportführer Tempel war dort  für die gesamte Durchführung der Räumung verantwortlich und ging mit unbeschreiblicher Brutalität vor. Der Augenzeuge Moses Berger, der im Dachauer Prozeß aussagte, schilderte in einfachen Worten, was sich am 26.April.1945 im Lager 1 ereignete:

Kurz vor der Befreiung, wurden wir ins Lager 1 gebracht. Als wir im Lager 1 ankamen, standen Tempel und andere SS-Leute dort und trieben uns an, den Zug schneller zu verlassen. Die ganze Gruppe die im Lager ankam bestand aus Kranken. Diejenigen, die nicht so schwer krank waren kamen sofort heraus. Die Schwerkranken konnten nicht so schnell aussteigen und brauchten länger. Tempel ging hin, trat sie mit den Füßen und schlug sie mit einem Kabel. Als ich meinem Bruder beim Verlassen des Eisenbahnwaggons half, schlug ihn Tempel so schlimm, daß sich sein Gesicht ganz entstellte. Mein Bruder war am nächsten Tag tot. (...) Diejenigen, die im Lager 1 in den Hütten waren, wurden zur Räumung herausgetrieben. Ich weiß von vier Männern, die sich im Frauenblock versteckt hatten. Sie wurden von Tempel ergriffen und mit der Pistole in der Hand herausgetrieben. Auf dem Appellplatz, auf dem ich lag, erschoß er zwei dieser Leute. Sie blieben tot auf dem Platz liegen."

Das ganze Lager befand sich in Auflösung, die Wachmannschaften waren nervös und in der Kommandantur wurden Berge von Akten vernichtet. Die Häftlinge ahnten, daß die amerikanischen Streitkräfte nicht mehr fern waren und auf Landsberg vorrückten. Manche wollten in ihren Hütten bleiben und auf ihre Befreier warten. Tempel ging mit brutaler Gewalt vor und führte viele Erschießungen durch. Die Erschießungen begannen um 6.00 Uhr morgens und dauerten bis in die Nacht hinein. Abraham Rosenfeld, ein Zeuge der Anklagevertretung, berichtete:

„Am Abend begannen sie das Lager 1 aufzulösen. Tempel kam, mit einem Stock in der Hand, herausgerannt und schrie: " Alle heraus aus dem Block und zur Verladestation!". Die Menschen wollten nicht herauskommen. Sie schickten alle arischen Capos und Blockältesten hinein. Diese sollten solange prügeln, bis alle Häftlinge aus ihren Hütten herauskommen würden. Mein Freund und ich verließen die Hütte und gingen zur Ecke des Appellplatzes in der Nähe des Frauenlagers. Etwas entfernt sahen wir auf dem Boden ein Stück Brot liegen. Mein Freund bückte sich, um das Brot aufzuheben. Tempel zog eine Pistole heraus, schoß und tötete ihn".

So und ähnlich klingen die Berichte, in denen ehemalige jüdische KZ-Häftlinge die „Evakuierung" des Lagers 1 beschreiben. Die Häftlinge spürten, daß die Befreiung kurz bevor stand und versuchten alles Mögliche um nicht noch in letzter Minute abtransportiert zu werden. Sie wußten, daß ihr Leben in den Augen der SS „keinen Pfifferling mehr Wert“ war. Manche versteckten sich, andere stellten sich tot oder verbargen sich, wie der polnische Jude Marc Weinberg, in einem Berg von Leichen, um den Suchtrupps der SS zu entgehen.

Eine der eindrucksvollsten und bewegendsten Schilderungen aus dieser Zeit stammt von dem ehemaligen jüdischen KZ-Häftling Nr. 124454, Dr. Albert Menasche. Er beschrieb, wie er diese Tage im Lager 1 in Landsberg und die Befreiung durch die amerikanischen Truppen erlebte:

Im Licht der Scheinwerfer zwang man uns, uns zum Appell in Fünferreihen aufzustellen. Dann betraten wir die finsteren Erdhütten in Fünfzigergruppen. Wir verteilten uns auf das von Läusen verseuchte Stroh. Wo waren wir? Niemand wußte es. Obwohl wir von der Reise völlig entkräftet waren und fast tot vor Hunger, ergingen wir uns in endlosen Kommentaren. Es gab eine wunderbare Melodie über uns. Es waren die amerikanischen Bomber, die ihr Zerstörungswerk verrichteten. Wer weiß, vielleicht würden wir  morgen schon frei sein? Eine ungestüme Kraft regte uns an und lenkte uns von unserem Hunger ab. Wir verbrachten die Nacht halb benommen. In der Dämmerung erhoben wir uns rasch und liefen zum "Informationsquartier" , wo wir erfuhren, daß wir uns im Lager 1 befanden und daß die Amerikaner nicht mehr weit waren.

Andere behaupteten, es sei General Leclerc, der Kommandant der französischen Armee, der in beschleunigtem Marsch in unsere Richtung vordränge. Während wir warteten, war fast gar nichts zu tun, außer zurück ins "Bett" zu gehen. Es war notwendig unsere Kraft zu bewahren, da unsere Suppe nur am Mittag kommen würde und wir schon eine beträchtliche Anzahl von Stunden gefastet hatten . Wieder begannen wir unsere selbstgemachte Landkarte zu studieren. Amerikanische Flugzeuge flogen unaufhörlich über unsere Köpfe. Nicht einmal Alarm wurde mehr gegeben.(...) um 15 Uhr wurde die Glocke, die zum Antreten rief, wieder geläutet. Das ganze Lager sollte verlassen werden. Sofort gab es hundert ausgestreckte Arme, die die Suppe der Blockältesten erreichen wollten. Zehn von uns gelang es, an sie heranzukommen. Ich hatte das Glück, zwei Handvoll des Breis abzubekommen.

Während die Hungrigen in der Baracke um die Suppe kämpften, versammelten sich draußen die Häftlinge. Die Kranken wurden auf die Seite gelegt. Alle noch gehfähigen wurden in Fünferreihen zur Bahnstation gebracht. Mein Neffe und ich entschieden uns dafür, nicht zum Appell anzutreten. Wir waren nun sicher, daß die Alliierten sehr nahe bei uns waren. Es war nur eine Frage des Sich-Versteckens für einige Stunden. Wir sperrten uns im WC ein, wo wir bis 19,00 Uhr blieben. Dann, als wir draußen neuen Lärm hörten, wagten wir uns heraus. Doch kaum waren wir zwei Schritte gegangen, als uns ein SS-Mann mit der Peitsche in der Hand befahl, ihm zu folgen. Wohin brachte er uns? Wir stoppten an einem Wagen, der voller kranker Menschen war. Dreißig junge Mädchen, die vom Typhus befallen waren, befanden sich in ihm. Zehn unserer Kameraden waren bereits vor den Karren gespannt. Wir schlossen uns ihnen an und setzten uns in Richtung Bahnhof in Bewegung. Es war fast Nacht. Auf einer eingeschneiten Straße, die von zurückweichenden Armeefahrzeugen blockiert war, schoben oder zerrten wir den Karren die vier Kilometer bis zum nächsten Bahnhof (Kaufering). Der Stau war unbeschreiblich. Tausende von Menschen versuchten einen Platz in einem der Viehwaggons zu finden. Wir ließen die Kranken auf dem Gras liegen. Unser Bewacher befahl uns, zum Lager zurückzukehren, um andere zu bringen. Wir konnten kaum noch stehen. Wir hatten für mehr als neun Stunden nichts zu essen bekommen. Von seiner Peitsche angetrieben, sammelten wir neue Kraft und begannen den Karren zurückzuschieben. Nun gingen wir in völliger Dunkelheit. Gegen 23,00 Uhr waren wir im Lager, um die nächste Fracht abzuholen. Doch am Lagertor befahl man uns aufzuhören. Es war bereits zu spät -- die Amerikaner waren zu nah. Eine halbe Stunde später war keine einzige Wache mehr zu sehen. Es schien, daß die Deutschen uns verlassen hatten, um uns unserem Schicksal zu überlassen.

Alle Häftlinge, von denen die meisten schwerkrank waren, kamen heraus ins Freie. Sofort begann die Plünderung der Küche und der Depots. Die Szene erschien unwirklich: Hunderte von Skeletten kämpften im Schatten der Nacht. Ein Typhuspatient kämpfte um ein Stück Brot mit einem lebenden Toten, der irgendwoher die Kraft nahm, sich zu verteidigen. Einige Kranke fielen, um nie wieder aufzustehen. Der Boden war mit Sterbenden bedeckt. Wimmern und Stöhnen, auf das niemand achtete, erfüllte die Luft. Menschen als solche gab es nicht mehr. Wir waren nichts, als eine verlassene Herde wilder Tiere. Wir wurden von einem Trieb geführt: Hunger! Wir hatten nichts außer einem Ziel, zu essen, nur noch einige Stunden zu überleben. Leben und Freiheit erwarteten uns. Die Stunden vergingen wie ein Alptraum. Mit den ersten Lichtstrahlen beruhigten sich unsere tierhaften Triebe. Wir schämten uns davor, uns anzusehen. Die Toten lagen zu Hunderten zu unseren Füßen. Es waren die vom Typhus heimgesuchten, die sich ins Freie geschleppt hatten, um als freie Menschen unter den Sternen zu sterben.

Wir bestimmten einige Häftlinge als Köche, um mit dem Wenigen, was sich in der Küche befand, eine Suppe zu machen.

Gegen 11,00 Uhr war die Suppe fertig. Wir saßen gerade im Block und aßen, als wir eine furchtbare Detonation hörten. Die Fensterscheiben zerplatzten und eine Wand der Baracke stürzte ein. Was war geschehen? Wir rannten nach draußen, um dort regungslos vor der Szene, der wir gegenüberstanden, zu verharren. Alles stand in Flammen. Vielleicht sagten uns die Deutschen Lebewohl, indem sie unser Lager verbrannten. Jetzt kämpfte wieder jeder für sich selbst. Immer noch von meinem Neffen begleitet, schleppte ich mich zu dem der Straße zugewandten Lagereingang. Wir hatten genug Glück, um einen Graben zu finden, in den wir uns glücklich fallen ließen. Eine ungarische Frau war bereits da und -- ungewöhnlich wie es klingen mag -- hatte sie drei Laib Brot bei sich. Mit Drohungen brachten wir sie dazu, uns einen zu geben. Es war ein wahrhaftes Festmahl. Über uns hinweg pfiffen die Kugeln, doch wir achteten nicht auf sie. Schließlich beschloß ich, aus dem Graben aufzutauchen. Ein Schrei, der alles nur nicht menschenähnlich war, entrang sich meiner Kehle. Da, direkt vor mir, stand ein amerikanischer Panzer und feuerte in den Wald. Von allen Seiten kamen deutsche Soldaten --  mit erhobenen Händen -- aus ihren dreckigen Löchern, um sich zu ergeben. Hunderte von Schreien beantworteten meinen. Wir alle warfen uns auf die Straße. Die Amerikaner gaben uns Zeichen zurückzubleiben, aber wir hörten auf niemanden. Was bedeutet Gefahr in einem Moment wie diesem? Wir rannten auf sie zu. Mit ihren Händen und ihren Augen wiederholten sie ihre Anweisung -- sie bettelten, sie flehten uns an, zurückzubleiben. Wir behinderten sie dabei, die Straße frei zu machen. Als sie uns von der Nähe sahen, erstarrten sie vor Schreck. Sie fragten sich, ob der jüngste Tag gekommen sei und die Toten auferständen. Die Amerikaner beendeten schließlich ihre Arbeit. Nicht ein Deutscher war mehr zu sehen. Dann kamen sie lächelnd heran, um uns zu begrüßen. Sie boten uns Schokolade, Bonbons und Bier an. Zum ersten Mal seit zwei Jahren sprach ich als freier Mann mit einem freien Mann! Ja, es ist wahr! Der Häftling 124454 war tot. Dr. Albert Menasche war wieder geboren".

Die Befreier waren entsetzt und empört über die Verhältnisse, die sie in den Konzentrationslagern um Landsberg vorfanden. Die meisten von ihnen hatten so etwas noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie halfen wo sie helfen konnten und kümmerten sich um die Überlebenden. Die Lazarette und Krankenhäuser der Umgebung nahmen die abgemagerten und schwerkranken Menschen auf. Trotzdem überlebten viele ihre Befreiung nur noch um Tage. Ihre Mägen konnten die Nahrung nicht mehr verarbeiten, sie waren dem Tode geweiht.

Viele internationale Delegationen und hochrangige Politiker besuchten in diesen Tagen die ehemaligen Kommandos von Kaufering und Landsberg. Die Welt blickte nach Landsberg.

Die Kriegsverbrecheruntersuchungskommission 6823 der 7. US Armee, unter dem Vorsitz des Col. David Chavez, nahm bereits am 30.4.1945 ihre Ermittlungen auf. Im Abschlußbericht der Kommission heißt es unter anderem: „Wenn man von den Lebensbedingungen ausgeht, waren die 11 Lager in der Umgebung von Kaufering und Landsberg in Bezug auf die Unmenschlichkeiten, des Hungers und der Krankheiten die Schlimmsten."

Wieviele der jüdischen KZ-Häftlinge in den letzten Apriltagen bei der Räumung der Konzentrationslager um Landsberg und Kaufering ermordet wurden, ist nicht bekannt. Im April 1949 versuchte der Generalanwalt des Bayerischen Landesamts für Wiedergutmachung, Dr. Auerbach, die Zahl der im KZ-Lagerkomplex Kaufering/Landsberg ermordeten jüdischen KZ-Häftlinge zu ermitteln. Im „Landsberger Amtsblatt" und in den „Landsberger Nachrichten" wurden Bürger der Stadt und des Landkreises Landsberg und ehemalige KZ-Häftlinge aufgerufen, Angaben „betreffs der im Kreis Landsberg gestorbenen KZ-Insassen zu machen". Dr. Auerbach übersandte am 23. April 1949 der Stadt Landsberg eine „Zusammenstellung der Lagerstärken und Todesziffern der Lager um Landsberg". Danach wurden in den 11 Konzentrationslagern um Landsberg und Kaufering in zehn Monaten 44.457 KZ-Häftlinge ermordet. Darunter „4000 Tote, die auf den Evakuierungsmärschen in Stadt und Landkreis erschossen, erschlagen und vor Schwäche gestorben" sind. Diese Zahlen erzeugten eine Woge der Entrüstung und des Entsetzens in Landsberg. Dr. Auerbach sah sich einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, in der sich besonders der Redakteur derLandsberger Nachrichten", Paul Winkelmayer, hervortat. Man könne hier „höchstens von 3000 bis 4000Toten sprechen", meinte er. Der damalige Bürgermeister Ludwig Thoma versuchte zu schlichten und nahm den  CSU-Stadtratsfraktionsvorsitzenden Winkelmayer in Schutz. Er schrieb am 29. April 1949 an Dr. Auerbach: „Winkelmayer hält es für seine Ehrenpflicht, als Stadtrat und Chronist im Interesse der Stadt für Wahrheit und Klarheit zu kämpfen. Wenn er dabei manchmal die Grenzen überschreitet, dann kann ihm das wohl nicht zum Vorwurf gemacht werden, zumal er sicher nur aus edlen Motiven handelt. Seine politische wie insbesondere seine christliche, betont katholische Einstellung läßt keinen Judenhaß zu".

In den darauffolgenden Wochen findet sich unter Vorsitz von Landrat Dr. Otto Gerbl eine Kommission zusammen, die die „Zahl der jüdischen Todesopfer im Landkreis Landsberg" ermitteln soll. Elf Personen wurden „einvernommen" und geben zu Protokoll, was sie über den KZ-Lagerkomplex Kaufering/Landsberg wissen. Unter ihnen befindet sich nur ein einziger Jude, der KZ-Häftling in Landsberg gewesen war. Am 3. Juni 1949 trifft sich die Kommission zur Abschlußbesprechung und gibt „nach gemeinschaftlicher Prüfung des vorliegenden Aktenmaterials" die „Zahl der jüdischen Todesopfer im Landkreis Landsberg " bekannt. Die Kommission, die sich aus dem damaligen Oberbürgermeister Thoma, Landrat Dr. Gerbl, dem Vertreter des jüdischen Komitees Abraham Pelmann, dem Vertreter des Bayerischen Hilfswerks Curt Klemann und dem Redakteur Paul Winkelmayer zusammensetzte, einigte sich auf 14.500 Tote, die in den Landsberger Lagern „umgekommen" sind.

In dem Bericht, der Dr. Gerbl vorgelegt wurde, heißt es unter anderem: „Es erscheint wenig glaubhaft, daß auf den Evakuierungsmärschen im Landkreis und der Stadt Landsberg 4000 Leute erschossen und erschlagen worden sind und vor Schwäche gestorben sein sollen. Wo sollen denn diese 4000 Menschen begraben liegen". Nach dieser „amtlichen Schätzung" und Beurteilung, wäre also  kein einziger KZ-Häftling bei der Räumung der Konzentrationslager und auf den „Evakuierungsmärschen" ermordet worden.

Viele Jahrzehnte schien es fast so, als könnte Dr. Auerbach mit seinem Vorwurf, „daß man den im Grabe Liegenden sogar ihren Tod streitig machen möchte" recht gehabt haben. Über sechs Jahrzehnte wurden diese „Schätzungen“ nie überprüft und überarbeitet.

Der Dissens, die Diskussionen und der Streit über die tatsächlichen „Totenzahlen“ im KZ-Lagerkomplex von Kaufering/Landsberg erstreckten sich schließlich bis in das 21. Jahrhundert, da für eine fundierte historische Beurteilung die entsprechenden Quellen fehlten.

Nach Auswertung der uns heute vorliegenden Quellen ist weder die von Dr. Auerbach in der „Zusammenstellung der Lagerstärken und Todesziffern der Lager um Landsberg" genannten Zahl von 44.457 ermordeten KZ-Häftlingen, noch die von Paul Winkelmayer genannte Zahl von „höchstens von 3000 bis 4000 Toten", noch die „amtliche Schätzung" und Beurteilung der Kommission unter der Leitung von Landrat Dr. Gerbl, die sich auf eine Zahl von 14 500 „jüdischen Todesopfer im Landkreis Landsberg“ festlegte, wissenschaftlich belegbar.
Nach gegenwärtigem Wissensstand, wurden in zehn Monaten 20 957* KZ-Häftlinge in den KZ-Lagerkomplex von Kaufering/Landsberg deportiert. 6391* namentlich bekannte KZ-Häftlinge überlebten die KZ-Lager nicht - nach Auschwitz-Birkenau und in andere Konzentrationslager „überstellte“ und dort ermordete KZ-Häftlinge sind in dieser Zahl nicht berücksichtigt - und liegen in den Massengräbern um Kaufering und Landsberg.

*Auswertung Gerhard Roletscheck: Stand März 2013.

© den jeweiligen Eigentümern; Alle Rechte der Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.